Ich meine, ich verstehe es ja, dass die Meinungsführer der 50,3 Prozent, die vor zwei Jahren der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» zugestimmt haben, nach dem 52-Prozent-Exit-Votum der Briten ins Hyperventilieren geraten.
Schliesslich haben sie vor Jahren eine Wette auf den Zusammenbruch der Europäischen Union abgeschlossen, weshalb sie das Votum der Engländer als Etappensieg deuten.
Aber wie es halt so ist bei Wetten, seinen Gewinn kann man erst dann einstreichen, wenn die Würfel endgültig gefallen sind.
Bis es so weit ist, könnte man zumindest die Zeit nutzen, um über die Frage nachzugrübeln, welche Vorteile wir eigentlich gegenüber heute hätten, wenn die EU tatsächlich den Bach runterginge.
Zumal man auch darauf wetten kann, dass die Schweiz den Untergang der EU, wenn überhaupt, dann nur schwer angeschlagen überleben würde.
Allerdings, auch ich erkenne im Briten-Votum Positives: Wir können nun in einem 1:1-Experiment mitverfolgen, ob die Meinungsmacher der 50,3er recht haben mit ihrer Behauptung: Unabhängigkeit macht stark. Wohingegen unsere 120 bilateralen Verträge mit der EU und die damit verbundenen Regeln «die alten Freiheitsbriefe vertilgen» (Schiller, «Tell»).
Weshalb man sie kündigen müsse, sollte die EU nicht kapieren, in welch existenzielle Not uns die Zuwanderung von hoch qualifizierten EU-Bürgern gebracht hat. Notfalls mit einer neuen Initiative.
Klammer: Wenn ich solche Kampfansagen lese, sehe ich diesen schmalbrüstigen Typen, hinter dessen ausgestreckten Daumen das Matterhorn verschwindet, weshalb er lautstark grölt: Boah, bin ich gross! Klammer zu.
Während also bei uns die national gesinnten Eliten das Volk wort- und gestenreich auf den Bruch mit der EU vorbereiten, ist er in Grossbritannien tatsächlich vollzogen worden.
Die Briten haben mit ihrem Votum einen Prozess losgetreten, der die bisherige Renitenz der Schweiz gegenüber «Brüssel» als das entlarvt, was sie schon immer gewesen ist: Legendenpflege eines politischen Zwergs.
Auch wenn unsere Höhenfeuerjubler anderes betonen, Fakt ist, dass der Brexit für Grossbritanniens Wirtschaft das bedrohlichste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg ist und für die Weltwirtschaft der schlimmste Zwischenfall seit der grossen Finanzkrise.
Oder wie die Harvard Business Review feststellt: Er ist ein Sinnbild für ein unruhiges neues Zeitalter, eines, in dem der Zusammenbruch der Systeme das neue Normale ist.
Hervorgerufen, kann man ergänzen, durch eine erkennbare Lust am Untergang.
Wir, die wir imstande sind, die Sache losgelöst von nationaler Trunkenheit, also nüchtern zu betrachten, sollten genau hinschauen und aus dem, was sich jetzt abspielt, egoistische Schlüsse ziehen.
Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Schweiz in ihrem Verhältnis zur EU viel weiter ist, als es Britannien nach Anrufung von Artikel 50 sein wird. Und zweitens haben sich unsere Berufsdiplomaten bislang geschickt geschlagen.
Weshalb wir es uns, mitten in der EU, ganz behaglich einrichten konnten.
Woraus folgt, dass wir nicht auf die Briten zählen sollten. Kluge Taktiker gehen vielmehr davon aus, dass sie noch in zehn Jahren Mitglied der Europäischen Union sein werden, weil man sowohl in London als auch in Brüssel schon bald erkennen wird, dass es faktisch schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, die per Volksentscheid beschlossene Trennung tatsächlich umzusetzen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 6. Juli 2015
PS: Aktueller Kurs GBP – CHF: 1.26, runter von 1.45 am Tag vor Brexit
Meury Christoph meint
Es wirkt natürlich zynisch, wenn aussenstehende Experten das ganze Brexit-Brimborium als Experiment am lebenden Organismus betrachten. Für die jungen Britinnen und Briten hat der Entscheid fatale Folgen:
«Ein junger Brite, Nicholas Barrett, hat es am Tag nach der Abstimmung in der „Financial Times“ so auf den Punkt gebracht: „Die jüngere Generation hat das Recht verloren, in siebenundzwanzig anderen Ländern zu leben und zu arbeiten. Niemals werden wir den vollen Umfang der verlorenen Chancen, der Freundschaften, Ehen und Lebenserfahrungen ermessen können, die uns verwehrt worden sind. Die Freizügigkeit ist uns genommen worden – von unseren Eltern, Onkeln und Großeltern, in einem letzten Stoß an eine ganze Generation, die sowieso schon in den Schulden ihrer Vorgänger ertrinkt.“» (FAZ vom 6.7. 2016)
M.M. meint
36% „der Jungen“ haben an der Abstimmung teilgenommen. Blöd halt.
Meury Christoph meint
Bitte keine Häme: Eines Tages werden die Jungen sich zusammenraufen und zur Strafe ein paar Altersheime schliessen und ein allgemeines Rollatorenverbot für Innenstädte erlassen 😉
Dagobert Durutti meint
Die Zahl „36%“ stammte ja auch aus einer Umfrage (auch in UK gibt es ein Stimmgeheimnis) . Eine andere Umfrage der London School of Economics sagt jetzt: “After correcting for over-reporting [people always say they vote more than they do], we found that the likely turnout of 18- to 24-year-olds was 70% – just 2.5% below the national average – and 67% for 25- to 29-year-olds.“
http://www.theguardian.com/politics/2016/jul/02/brexit-referendum-voters-survey
M.M. meint
Sky-Data veröffentlichte folgende Zahlen zur Abstimmungsbeteiligung
18-24: 36%
25-34: 58%
35-44: 72%
45-54: 75%
55-64: 81%
65+: 83%
Und Lord Ashcroft die folgenden
http://arlesheimreloaded.ch/wp-content/uploads/2016/07/Cl0wWnSWEAApPb2.jpg
Was heisst: von denen mit der Zukunft gingen weniger an die Urnen als jene ohne. Es wird bereits über restrictions on „gray“ voters diskutiert, dass man ihnen also das Stimmrecht entzieht, so wie den Führerschein.
Heiner Schäublin meint
Nun lassen sich die Zahlen also dahingehend interpretieren, dass die Generationen, die sich schon ein wenig in der Gesellschaft orientieren konnten (also die 25+) mit durchaus respektabler Beteiligung an der Entscheidung über ihre Zukunft beteiligt haben.
Währenddessen hat sich die noch im Selbstversuch befindliche Generation (ganz jugendgerecht, die wahlberechtigte 25-) um für sie wichtigeres gekümmert.
Die Forderung, den Alten die Stimme zu entziehen passt in unser Klientel-System: Was nicht passt, wird passend gemacht. Notfalls mit der politischen Entmündigung (davor schützt zwar Besitz, aber die Frage ist: Wie lange noch?).
Heiner Schäublin meint
Bösartige Alte, die eine ganze Generation zu Isolationshaft verdonnern (sowas nur)? Noch kennen wir die Reisefreiheit, und Freundschaften, Ehen und Lebenserfahrung sind weiterhin möglich. Und was die Chancen betrifft: Die Welt wartet auf Talent. Nur hat das nicht jeder Studiosus (und das werden jetzt ein paar von ihnen lernen müssen).
Höhenfeurer meint
Die Schweiz als „politischen Zwerg“ abzuqualifizieren, ist eine Frechheit.
M.M. meint
Ich denke, die Auseinandersetzung mit den USA in Sachen Banken hat die Grösse der Schweiz anschaulich dargestellt.
Die Steuerhinterzieher-Häfen der Briten hingegen sind noch immer im Markt.
Carla di Ponte meint
Das Bühnenstück Wilhelm Tell, geschrieben von einem Deutschen, zeigt, dass Zusammenstehen stark macht. Das gilt in der gegenwärtigen Weltlage ganz besonders. Kein Land kann im Alleingang all die aktuellen Probleme meistern. Die Briten werden das schon sehr bald einsehen (müssen).
Beat Halter meint
Ich bin davon überzeugt, dass Grossbritannien gestärkt aus „der Sache“ herauskommen wird. Selbstverständlich erleben wir jetzt Unsicherheiten an den Märkten, die wohl noch eine Weile andauern werden. Aber wenn sich der erste Pulverdampf verzogen hat und die Umrisse des neuen Verhältnisses zwischen GB und EU abzeichnen, werden die Märkte wieder drehen.
Paule meint
Guter Kommentar. Allerdings bin ich nicht so pessimistisch was den Untergang der Schweiz nach einem Zusammenbruch der EU anbelangt. Da haben wir schon schlimmere Zeiten erlebt. Dass wir in schwere Stürme kämen, liegt auf der Hand.