Das Missverständnis ist das Kind aller Konflikte. Ein anschauliches Beispiel – mit einem historischen Side-kick – können wir dieser Tage mitverfolgen.
Es geht einmal mehr um den Brexit, den man gemäss der britischen Regierung nicht mehr so nennen soll.
Sei’s drum.
Der Austrittsvertrag wird mit einer politischen Absichtserklärung ergänzt, in der festgehalten wird, wie es in Zukunft weitergehen soll.
Wobei gemäss der Interpretation der EU tatsächlich „soll“ gemeint ist, wo hingegen die Briten ein „könnte“ setzen.
Was bedeutet: Die Briten wollen mit der EU – ausser Handelsbeziehungen – nicht mehr viel zu tun haben. Und die EU will die Briten auf keinen Fall aus ihrem Orbit entlassen.
Mit einer völlig divergierenden Interpretation eines bereits monatelang diskutierten und von beiden Seiten unterzeichneten Textes beginnen also nächsten Montag die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen.
Was zum nächsten Missverständnis führt.
Liest man die Positionen der Briten, so scheinen diese in ihrem Verständnis von Welthandel in der Zeit vor ihrem Beitritt zur EU vor fünfzig Jahren stehen geblieben zu sein.
Sie wollen in erster Linie Zölle vermeiden. Nun sind Zolltarife in der heutigen Welt im grenzüberschreitenden Waren- und vor allem Dienstleistungsverkehr so ziemlich das Unwichtigste.
Es geht heutzutage vielmehr um die Frage, wer Normen und Regeln festlegt.
Weltweit.
Die EU mag zwar keine Grossmacht im herkömmlichen Sinn sein. Hinsichtlich ihrer ordnungspolitischen Schlagkraft und Marktmacht ist sie hinter den USA und noch vor China ein Player, den die Briten und andere Nationen nicht einfach ignorieren können. (Die Schweizer erst recht nicht.)
„Alles, von der Holzproduktion in Indonesien bis hin zum Datenschutz im Internet in Lateinamerika, wird nun von einem Haufen Bürokraten, Diplomaten, Europaabgeordneten und Lobbyisten mitten in Belgien geregelt“, hielt kürzlich der Economist fest.
Man spricht in Ökonomenkreisen vom „Brüsseler Effekt“ und meint damit, wie die EU ohne gross Aufsehen erregt zu haben, zu einer regulierenden Supermacht geworden ist.
Weshalb – ein weiteres Missverständnis auf Seiten der Briten – es ziemlich egal ist, ob die Regierung die Brüsseler Normen und Regeln nun nicht mehr länger befolgen will.
Die exportierenden britischen Unternehmen, zum Beispiel die Auto-, Pharma, Chemie- und Agrarindustrie werden das von sich aus tun (müssen), weil die Produzenten den Kontinent als Absatzmarkt schlicht nicht ignorieren können, egal wie lästig dessen Regulierungen sind.
Wir reden hier immerhin vom grössten Wirtschaftsraum der Welt.
Wenn ein Unternehmen also überall das gleiche Produkt verkaufen will, anstatt Geld für viele verschiedene Versionen zu verschwenden, muss es europäische Standards erfüllen.
Weshalb es vorkommt, dass Unternehmen und Verbände bei ihren nationalen Regierungen Lobbyarbeit betreiben, um ihre Vorschriften auf europäisches Niveau anzuheben, damit ein Rivale keinen Vorteil erlangt, indem er technisch minderwertige Produkte ausschliesslich für den heimischen Markt produziert.
Die Agrarlobby in Grossbritannien hat sich eben dagegen gewehrt, dass die Regierung die Umwelt- und Veterinärstandards senken will, um dem amerikanischen Chlorhuhn die Grenzen zu öffnen.
Es kann den globalen Briten durchaus blühen, dass ihre neuen Freihandelspartner in aller Welt, zum Beispiel die Japaner, darauf pochen, dass sie sich auch weiterhin an EU-Regeln und Normen orientieren.
Weil die Japaner diese inzwischen auch einhalten.
Letztes Missverständnis: Beim Feilschen um Handelsverträge geht es, anders als die Britische Regierung meint, nicht um Souveränität, sondern um kommerzielles und wirtschaftliches Gewicht.
Bis Juni will Johnson wissen, woran er ist und je nachdem den Verhandlungstisch verlassen. Das ist ungefähr auch die Zeit, in der sich die Schweiz definitiv entscheiden muss, ob und wie sie mit Brüssel weiterverhandeln will.
Spannende Zeiten.