Weihnachtsbaum in der Tate Britain
Das mit den «hiesigen gesellschaftlichen Werten» ist ja so eine Sache. Nehmen wir zum Beispiel Weihnachten.
Weil wir schon vor langer Zeit aus der Kirche ausgetreten sind, haben wir unsere Kinder nicht taufen lassen. Weihnachten haben wir aber trotzdem gefeiert. Aus verständlichen Gründen nicht als Fest der Geburt Christi, sondern als Kinderfest mit bunt geschmücktem Baum, vielen Geschenken, mit einem guten Nachtessen. Ohne postfaktisches Christkind oder Weihnachtsmann.
Danach schauten wir «Little Lord Fauntleroy» oder sonst was Rührseliges.
Nach frisch gebackenen Gutzli duftete es in unserem grossen Haus spätestens ab Mitte November. Hand aufs Herz – die ersten Brunsli im November sind doch die besten. Weil man eigentlich warten müsste bis Weihnachten. Begleitet wurde die rege Backtätigkeit von Weihnachtssoundkitsch, von Soul Christmas über Bing Crosby bis zu diesem Ohrwurm: «Last Christmas».
Irgendwann haben wir angefangen, den Baum schon Anfang Dezember zu schmücken.
Wir dachten, es sei eigentlich schade, sich an dieser Pracht von einem Weihnachtsbaum mit seinen bunten Kugeln, dem Lametta, den Lichtern und dem Weihnachtsschmuck – den wir in den USA gekauft hatten: Baseballhandschuh, Santa Claus, Schlitten, Rentier – nur gerade für eine knappe Woche zu erfreuen.
So wurde der Weihnachtsbaum in unserem Wohnzimmer zum bunten Lichtobjekt, zusammen mit Lichterketten und künstlichem Tannengrün, mit denen die Türen zum Esszimmer und zum Gang eingerahmt waren. Begleitet vom Knistern des Feuers im grossen englischen Kamin.
Ich weiss, man kann auch übertreiben.
Als die Kinder älter wurden, gabs noch ein wenig mehr Festlichkeit: Die Girls chic angezogen, meine Frau im Abendkleid, ich mit Smoking und der Jüngste mit weissem Hemd und mit einer meiner Krawatten. Das neue Abendkleid meiner Frau und mein Smoking waren eine Überraschung. Denn klar hatten die Kinder aufbegehrt, als wir sagten: Dieses Jahr gilt festliche Kleidung.
Weil das TV-Programm jenes Weihnachtsabends nicht so recht zu unserem festlichen Outfit passen wollte, liessen wir es bleiben. Stattdessen zog sich das Dessert hin. Bei einer Zigarre. Doch das obligate Weihnachtshauskonzert musste sein. Weil: «Wir bezahlen eure Musikstunden nur wegen des Weihnachtshauskonzerts.»
Weihnachten als Verwandtschaftstreffen hatten wir schon Jahre zuvor abgeschafft. Dieser Stress. Und die Stimmung war auch nicht immer grandios. Den Schlussstrich haben wir gezogen, als wir am 26. mit den Kindern für ein paar Tage nach Venedig fuhren.
Das war schön.
Die festliche Kleidung war auch die nächste Weihnacht noch okay, aber danach wurden die Geschenke wieder casual ausgepackt. Ach ja – Geschenke. Ich gebe es zu: Wir haben immer ein wenig übertrieben. Ausser einmal, da sind wir dieser Seid-doch-einfach-mal-etwas-bescheiden-Stimmungsmache aufgesessen, plus pädagogisch-wertvoll. Am 26. sind wir dann alle in die Stadt und haben richtige Geschenke gekauft. Das Holzxylofon von Musik Hug verstaubt seither im Keller.
Diese Weihnacht sind wir in London (man ist ja dank Threema und FaceTime nicht mehr wirklich weg). Am 25. machen wir das, was Engländer auch tun: Wir gehen fürs Weihnachtsessen ins Pub um die Ecke. Die Kinder haben ihre eigenen Familien. Unsere Familienzusammenkünfte finden unabhängig vom Festtagskalender statt.
Alles hat seine Zeit.
In diesem Sinn: schöne Festtage.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 21. Dezember 2016.