Es gibt Orte, die anders sind als all die anderen, die man während eines längeren Lebens durchstreift. Die zwar auch als Erinnerung Teil des Lebens werden, weil die Umstände besonders waren, die aber trotzdem nie diese Bedeutung erhalten wie jene anderen Orte.
Während die einen sich durch eine besondere Stimmung, ein atemberaubendes Landschaftspanorama oder grosse Emotionen für immer ins Gedächtnis einnisten, handelt es sich bei den anderen um eher banale, alltägliche Orte, die einem unter anderen Umständen kaum in Erinnerung blieben.
Vielleicht braucht es dieses Unspektakuläre, um genau zu dem Ort zu werden, wo sich dein Leben für immer verändert.
Obschon ich nicht mehr der Jüngste bin, habe ich das bislang nur einmal erlebt: in der Rio Bar.
Es dauert bis heute.
Anfangs der 70er-Jahre, nach zwei langen Indien-Fahrten, wollte ich Schriftsteller werden.
Ach, was heisst wollte – wenn mich jemand fragte, was ich denn so mache, sagte ich: «Ich bin Schriftsteller.»
Zu der Zeit machten mir Henry Miller und seine Bücher mächtig Eindruck.
Der hatte eines Tages seinen Bürojob geschmissen und zu schreiben begonnen. Um als Schriftsteller zu arbeiten, brauchst du nicht mehr als eine Schreibmaschine und etwas Papier, dachte ich.
Das Zehnfingersystem beherrsche ich blind.
Vom Bürojob hatte ich schon kurz nach der Lehrzeit genug. Die Jahre danach liess ich mich eher ziellos treiben.
Wie es dem Zeitgeist entsprach.
Ich schlug mich mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitete auf dem Bau, verkaufte Krankenversicherungen, hatte als Hilfspfleger im Kantonsspital Liestal gearbeitet, als Lieferwagenchauffeur, als Lagerbuchhalter und war eben dabei, eine Lagerbuchhaltung auf die elektronische Datenverarbeitung vorzubereiten.
Das war ein Dreitagejob.
Die restliche Zeit der Woche verbrachte ich mit Büchern und mit langen Spaziergängen mit dem Hund. Oder ich fuhr mit dem Deux-Chevaux nach Venedig, um die Surrealisten im Guggenheim-Museum zu besuchen. Eine Pizza, übernachten im Auto und wieder zurück.
Wir wohnten damals in Langenbruck.
In die Rio Bar ging ich erst seit Kurzem auf ein Feierabendbier.
Am langen Tisch vorne beim Fenster herrschte eine strikte Hackordnung. Als Neuer hattest du weder Anrecht auf einen der Stühle noch auf einen bestimmten Platz auf der Sitzbank. Wenn sie dich liessen, musstest du dich irgendwo dazwischenquetschen.
Es wurde geraucht. Und viel diskutiert und heftig gestritten, über alles und jedes und jeden.
Das war meine Welt.
War es beim vierten oder fünften Mal? Ich weiss es nicht mehr. Auf alle Fälle fragte einer in die Runde, ob jemand jemanden kenne, der ab und zu einen Zeitungsbericht aus dem oberen Baselbiet schreiben könne.
«Ich», und hob die Hand.
Wir tauschten die Telefonnummern. Ich war dann ziemlich überrascht, als er eine Woche später anrief und fragte, ob ich am Samstag zur Jahresversammlung des kantonalen Feuerwehrverbands gehen könne.
Er bräuchte den Artikel für die Montagsausgabe am Sonntag.
Da sass ich dann an diesem Samstag mit einem Notizblock und einem Bleistift in der Turnhalle in Niederdorf. Und als ich mir die ersten Notizen machte, da wusste ich: Das ist es.
Mein erster Artikel wurde ziemlich heftig umgeschrieben. Journalismus ist auch noch ein Handwerk.
Vor vierzig Jahren, lese ich, hat Felix Bigliel die Rio Bar von seinem Vater übernommen.
Da war ich schon weitergezogen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 11. Oktober 2017.
G. Koller meint
Er verkehrten dort ja noch genug andere Schriftsteller und Dichter, mehr oder weniger erfolgreiche und auch tragisch gescheiterte …
Michael Przewrocki meint
Dank des Rauchverbots braucht es jetzt bei der Claraplatz-Durchquerung eine Gasmaske! Dem Rheinbord entlang bald auch! Manfred hats schön.