Diese Zahl müssen Sie sich merken, wenn Sie künftig als Politiker oder als politisch interessierter Citoyen die direkte Demokratie hochleben lassen: 49,3 Prozent.
Weil die Schweiz ja sehr viel auf ihr direktdemokratisches System gibt.
Man kann sagen: durchaus zu Recht. Denn rein theoretisch ist das eine gute Sache, wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht nur alle vier Jahre, sondern auch in der laufenden Legislatur des Parlaments bei vielen Sachfragen das letzte Wort haben.
Und eigene Ideen einbringen können.
Wobei – trotz komplexer Welt – die Fragen zu den vielschichtigen Problemen derart simpel formuliert sein müssen, dass ein Ja oder Nein als Antwort genügt. Wollen Sie die Atomkraftwerke abstellen? Ja oder Nein?
Das ist fast wie: Wollen Sie ein Ei zum Frühstück?
Ja oder Nein – ist die direkte Demokratie der Schweiz deshalb so populär, weil sie im Kern ein populistisches Element enthält, indem sie schlichte Antworten auf komplizierte Sachverhalte einfordert?
Denn differenzierte Einwendungen sind bei Abstimmungen ausgeschlossen, gerade wenn man am liebsten ein Sowohl-als-auch-und-überhaupt auf den Abstimmungszettel schreiben würde.
Man mag diesen oder jenen Aspekt stärker gewichten, weshalb das Ja oder das Nein gerne «ohne Begeisterung» oder «überzeugt» eingelegt wird.
Doch erst mal in der Urne, ist das Ja ein Ja und das Nein ein Nein.
50,7 Prozent. In der Schweiz gilt selbst ein Abstimmungsergebnis von 50,1 Prozent als klares Votum und wird von da an mit «eindeutigem Volkswillen» apostrophiert. Die 49,9 Prozent sind am Montag danach höchstens noch schlechte Verlierer, weil seit einiger Zeit darauf bestanden wird: The winner takes it all.
50,7 Prozent: Das war die knappe Mehrheit, welche am 11. September 1949 die Eidgenössische Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» gutgeheissen hat.
Das heisst: 49,3 Prozent der Stimmbürger – die gewählte männliche Form ist hier völlig korrekt – wollten keine direkte Demokratie mehr haben.
Sie wollten, dass «die verfassungsmässigen Rechte durch allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse» (Verfassungszusatz von 1939) eingeschränkt bleiben.
Wie umstritten die Wiedereinführung der Volksrechte war, zeigt die Tatsache, dass die von Waadtländer Freisinnigen und Liberalen ergriffene Initiative das bis dahin knappste Abstimmungsergebnis erbrachte.
Es dauerte dann noch bis 1952, bis das geltende Vollmachtsregime «zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität» vollständig aufgehoben wurde.
Dank des Ausserkraftsetzens der Volksrechte konnte der Bundesrat über zehn Jahre lang wie jede gewöhnliche Regierung auf dieser Welt Gesetze erlassen, ohne dass «das Volk» irgendetwas dazu zu sagen hatte.
Insgesamt 543 Vollmachtsbeschlüsse wurden gefasst, darunter die Wiedereinführung der Kriegssteuer, die 1984 in «Direkte Bundessteuer» umbenannt wurde, schreibt Thomas Maissen in seiner «Geschichte der Schweiz».
Und das war es dann auch schon.
Kein Wort über die Initiative zur Wiedereinführung des Referendums mit damals noch 30 000 Unterschriften, kein Wort über das knappe Abstimmungsergebnis, kein Wort darüber, dass die Schweiz in einen «autoritären Staat mit totalitären Tendenzen, in dem die Freiheitsrechte ausgeschaltet sind» (der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti) abgedriftet war.
Möglich, dass das knappe Ja zur direkten Demokratie heute vielen etwas peinlich ist.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 23. November 2016
Credits @claudelongchamp